Der Fall der ultra-verarbeiteten Lebensmittel

Der Fall der ultra-verarbeiteten Lebensmittel

Eine Analyse von Sherlock, Food Sherlock

Der Mensch ist ein merkwürdiges Wesen. Er verlangt nach Wahrheit, aber er liebt die Illusion. In der Lebensmittelwelt zeigt sich dieses Paradoxon gerade besonders deutlich: unter dem Schlagwort „Ultra-Processed Foods“ – kurz: UPFs.

Ein neuer Bericht mit dem klangvollen Titel „How brands can navigate the ultra-processed backlash“ versucht, der Industrie einen Leitfaden an die Hand zu geben, wie man Kritik abwehrt, ohne die eigentliche Praxis grundlegend zu ändern. Ein interessantes Dokument – nicht wegen seiner Lösungen, sondern wegen seiner Widersprüche.

Kapitel I: Die Definition – oder das, was man dafür hält

Beginnen wir mit dem Offensichtlichen: Niemand weiß so recht, was UPFs eigentlich sind. Die sogenannte NOVA-Klassifikation versucht sich an einer Systematisierung, deren Grenzen jedoch so verschwommen sind wie ein englischer Nebel.

Ein Joghurt mit Vitaminen – ultra-verarbeitet. Ein einfaches Brot aus dem Supermarkt – ebenfalls. Ein industriell hergestellter Keks mit fünf Zutaten? Nun, das hängt davon ab, wen man fragt. Wissenschaftlich klar ist das nicht. Und genau darin liegt der erste Fehler: Man diskutiert mit Begriffen, die sich bei näherem Hinsehen auflösen wie Zucker in Tee.

Kapitel II: Der Reflex der Branche

Statt Aufklärung folgt Beschwichtigung. Die Industrie reagiert – wie so oft – nicht mit Ehrlichkeit, sondern mit Umdeutung. „Weniger Zutaten“ lautet das neue Credo. Man präsentiert Eiskrem mit fünf Zutaten, Schokosirup ohne Sirup, und Cornflakes, die sich auf eine einzige Zutat reduzieren lassen.

Ein brillanter Schachzug. Denn er zeigt nicht etwa ein neues Gesundheitsbewusstsein – sondern die Kunst, das gleiche Produkt in neuem Licht erscheinen zu lassen. Die Täuschung liegt nicht im Inhalt, sondern in der Inszenierung.

Kapitel III: Das saubere Etikett – und was es verschweigt

Die „Clean Label“-Bewegung ist kein Fortschritt, sondern ein Ablenkungsmanöver. Anstelle von deklarationspflichtigen Zusatzstoffen nutzt man nun Enzyme oder „natürliche Alternativen“, die – wie zufällig – nicht deklariert werden müssen.

Ein Lebensmittel wird dadurch nicht besser – es wird nur stiller. Und nichts ist gefährlicher als ein Produkt, das vorgibt, harmlos zu sein, während es sich der Prüfung entzieht.

Kapitel IV: Hyper-Palatable – ein bequemer Mythos

Ein neues Schlagwort macht die Runde: hyper-palatable foods. Lebensmittel, die angeblich „zu lecker“ sind und deshalb übermäßig verzehrt werden. Das klingt fast schon wie ein Vorwurf an den Geschmackssinn.

Doch was ist Geschmack, wenn nicht ein Zusammenspiel von Biologie, Kultur und Verarbeitung? Die Behauptung, dass „zu guter Geschmack“ an sich verdächtig sei, ist ebenso bequem wie unbegründet. Es lenkt ab von der eigentlichen Frage: Was essen wir – und warum?

Kapitel V: Der Versuch, die Debatte zu kontrollieren

Der erwähnte Bericht endet, wenig überraschend, mit dem Appell an die Hersteller, die Debatte proaktiv zu „gestalten“. Reformulieren, aber ohne Substanzverlust. Vereinfachen, aber nicht verzichten. Kommunizieren, aber nicht zu viel verraten.

Es ist ein Tanz auf dünnem Eis – und ein Lehrstück in Rhetorik. Der Wille zur Veränderung endet dort, wo der Umsatz beginnt.

Schlussbemerkung

Die Debatte über UPFs ist noch lange nicht abgeschlossen. Sie ist diffus, emotional, wissenschaftlich unsauber – und genau deshalb so gefährlich. Wer vorgibt, Komplexität durch Marketing ersetzen zu können, unterschätzt den mündigen Konsumenten – oder hofft darauf, dass er gar keiner ist.

Mein Rat?
Lassen Sie sich nicht blenden. Nicht von Etiketten, nicht von Zutatenlisten, und schon gar nicht von Versprechungen.

Wie bei jeder guten Ermittlung gilt:
Die Wahrheit liegt nicht an der Oberfläche – sondern darunter.

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