Mit vollem Magen missioniert es sich leicht

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Warum es überheblich ist, aus Europa heraus zu diktieren, was der Rest der Welt essen soll

In Europa wird über Essen leidenschaftlich diskutiert. Kaum ein Thema entfacht so viel moralischen Eifer wie Ernährung: Bio oder konventionell? Fleisch oder vegan? Regional oder global? Zuckerfrei, palmölfrei, tierleidfrei – und möglichst klimaneutral.

Diese Debatten sind wichtig – aber oft auch hochgradig überheblich. Denn sie entspringen einem Überfluss, den der Grossteil der Welt nicht kennt. Während wir streiten, ob Avocados ökologisch korrekt sind, ringt ein grosser Teil der Menschheit um die Frage, ob es heute überhaupt etwas zu essen gibt.

Wer keine Wahl hat, kann nicht „richtig“ wählen

Etwa 735 Millionen Menschen weltweit leben in extremer Armut. Doch weit darüber hinaus haben noch viel mehr Menschen keine echte Wahl, was sie essen – weil ihnen der Zugang zu Vielfalt in der Ernährung fehlt. Laut dem UN-Welternährungsbericht 2023 litten rund 2,4 Milliarden Menschen unter moderater oder schwerer Ernährungsunsicherheit. Das bedeutet: Fast ein Drittel der Weltbevölkerung hat keinen regelmässigen Zugang zu sicherer, nahrhafter und vielfältiger Nahrung.

Für diese Menschen ist Ernährung kein Lifestyle, keine ethische Entscheidung – sondern ein täglicher Kampf um Kalorien, Nährstoffe und Überleben. Wer in diesem Kontext darüber spricht, was „richtiges“ oder „gutes“ Essen sei, übersieht, dass Wahlfreiheit ein Privileg ist – und oft ein europäisches.

Wenn Ernährungsideale lebensgefährlich werden

Ein besonders heikles Beispiel: tierische Produkte. In vielen Ländern des globalen Südens sind sie überlebenswichtig – vor allem für Kinder. Eier, Milch und Fleisch liefern essenzielle Nährstoffe wie Vitamin B12, Eisen und hochwertiges Eiweiss, die in einer rein pflanzlichen Ernährung oft schwer verfügbar oder kaum bezahlbar sind. Studien zeigen: Der regelmässige Verzehr kleiner Mengen tierischer Produkte kann in unterversorgten Regionen Kindersterblichkeit senken und Entwicklungsdefizite verhindern.

Eine global übertragene Ernährungsideologie – etwa die vegane – kann in solchen Kontexten nicht nur sinnlos, sondern gefährlich sein. Was in Zürich und Berlin als ethische Entscheidung gilt, kann in Bangladesch ein Gesundheitsrisiko darstellen.

Der koloniale Beigeschmack westlicher Ernährungsmoral

Ob Fleischverzicht, Klimakompensation oder Superfoods: Der Versuch, global „richtige“ Ernährungsmuster zu propagieren, hat oft einen kolonialen Beigeschmack. Die Vorstellung, man könne anderen Kulturen vorschreiben, wie sie essen sollen, übersieht deren historische, ökologische und ökonomische Bedingungen – und reproduziert Machtverhältnisse unter moralischem Vorzeichen.

Ernährung ist immer auch kulturell. In vielen Gesellschaften sind bestimmte Speisen tief in Traditionen und Identitäten verwoben. Wenn europäische Stimmen diese Praktiken als „rückständig“, „nicht nachhaltig“ oder „unethisch“ abtun, verfehlen sie nicht nur den Ton – sondern untergraben Selbstbestimmung und Respekt.

Was wir wirklich brauchen: Demut statt Dogma

Natürlich müssen wir in Europa Verantwortung übernehmen – für unseren Konsum, unsere Emissionen, unser Ernährungssystem. Aber das gelingt nicht durch Moralisieren oder globale Vorschriften. Sondern durch Demut, Reflexion und echte Solidarität.

Wer helfen will, sollte zuhören. Wer etwas ändern will, sollte an der eigenen Haustür beginnen – ohne anderen vorzuschreiben, was sie essen sollen. Und wer über Ernährung spricht, sollte nie vergessen: Es ist ein Privileg, überhaupt wählen zu können.

Ein persönliches Wort zum Schluss

Ich selbst bin in der Schweiz geboren. Ich bin in einem Land aufgewachsen, in dem Ernährung nicht vom Zufall abhängt, sondern von Entscheidungsmöglichkeiten – ein Luxus, den viele Menschen nie erfahren werden. Diese Tatsache erfüllt mich täglich mit demütiger Dankbarkeit. Ich halte sie nicht für selbstverständlich. Und gerade deshalb glaube ich, dass wir sehr vorsichtig sein sollten, wenn wir anderen – aus der Sicherheit unserer vollen Kühlschränke heraus – sagen wollen, was sie essen sollen.

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