
Nährstoffe ohne Wirkung? – Warum die Gesetzgebung an der Biochemie vorbeigeht
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In der Europäischen Union und der Schweiz gelten klare Vorgaben: Lebensmittel und Nahrungsergänzungsmittel dürfen keine therapeutische Wirkung haben oder versprechen. Was im ersten Moment nach Verbraucherschutz klingt, führt bei näherem Hinsehen zu einem bemerkenswerten Widerspruch – denn die Wirkung von Nährstoffen ist unbestritten, auch wenn sie rechtlich nicht „wirken“ dürfen.
Ein Tropfen Wasser kann wirken – aber ein Vitamin nicht?
Schon ein Tropfen Wasser verändert den Zustand des Körpers: Osmose, Zellhydrierung, Temperaturregulation. Das ist Wirkung – messbar, reproduzierbar, biochemisch nachvollziehbar. Doch ein Vitamin, ein Mineralstoff oder eine Aminosäure soll keine „Wirkung“ haben, solange es sich nicht um ein zugelassenes Arzneimittel handelt? Diese Sichtweise ignoriert grundlegende physiologische Fakten.
Beispiel:
- Magnesium ist als Cofaktor an über 300 enzymatischen Reaktionen beteiligt, unter anderem an der Muskel- und Nervenfunktion.
- Vitamin B12 wird für Zellteilung, Blutbildung und Nervenleitung benötigt.
- Zink ist essenziell für das Immunsystem und die Wundheilung.
Diese Nährstoffe wirken – und zwar auf biochemischer Ebene. Ihre Abwesenheit führt zu Mangelerscheinungen, ihre Zufuhr korrigiert genau diese. Das ist per Definition therapeutisch – nur darf es so nicht genannt werden.
Die rechtliche Grauzone
Laut EU-Verordnung (EG) Nr. 1924/2006 dürfen gesundheitsbezogene Angaben („Health Claims“) bei Lebensmitteln und Nahrungsergänzungsmitteln nur verwendet werden, wenn sie von der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) geprüft und zugelassen wurden. Dabei werden Aussagen wie „trägt zur normalen Funktion des Immunsystems bei“ erlaubt – aber Aussagen wie „hilft bei Infekten“ oder „wirkt entzündungshemmend“ sind verboten, weil sie als medizinisch-therapeutisch gelten.
Diese Trennung ist juristisch notwendig, um Arzneimittel von Lebensmitteln abzugrenzen. Aus biochemischer Sicht ist sie allerdings nicht haltbar – denn der Körper macht keinen Unterschied zwischen einem Vitamin aus der Apotheke und dem gleichen Molekül aus der Paprika.
Faktenlage: Wirkung ist keine Frage der Formulierung
- Biochemie kennt keine juristischen Kategorien. Ein Molekül wirkt – unabhängig davon, ob es aus Nahrung, Supplement oder Medikament stammt.
- Der Gesetzgeber will den Endverbraucher vor Falschaussagen schützen. Das ist sinnvoll. Doch er verwechselt Schutz mit Einschränkung wissenschaftlicher Tatsachen.
- Der menschliche Stoffwechsel reagiert feinfühlig – selbst minimale Veränderungen im Elektrolythaushalt, pH-Wert oder Vitaminstatus haben messbare Auswirkungen.
Fazit: Der Körper kennt keine Bürokratie
Der aktuelle gesetzliche Rahmen schützt einerseits vor unseriösen Heilsversprechen – andererseits verhindert er oft eine sachliche, auf Fakten basierte Kommunikation über die Wirkung essenzieller Nährstoffe. Das führt nicht selten zu Informationslücken, Missverständnissen oder gar Fehlentscheidungen bei der Gesundheitsvorsorge.
Es ist Zeit, dass Biochemie wieder mehr Gewicht bekommt als juristische Begrifflichkeiten. Denn Gesundheit basiert auf Fakten – nicht auf Formulierungen.
Food Sherlock bleibt dran. Klar. Kritisch. Wissenschaftlich.